Maternal Fantasies: Love and Labor. Intimacy and Isolation. Care and Survival (2020)

Eine Performance zwischen Müttern und Kindern im Lockdown. Wer kümmert sich um wen und was sind die Konsequenzen? Das feministische Kunstkollektiv Maternal Fantasies lässt die Zuschauer*innen in ihre Häuser blicken, in denen künstlerische Produktion neben Hausarbeit und Kinderbetreuung existiert. Haushaltsgegenstände werden zu Spielzeug. Küchen werden zu Kulissen. Care-Arbeit und Elternschaft sind historisch von geschlechtsspezifischen Ungleichheiten geprägt, doch die aktuellen Bedingungen gesellschaftlicher Distanzierung haben diese Ungerechtigkeiten akut vergrößert. Vor diesem Hintergrund versucht die Performance, "Mütterlichkeit" nicht als eine physische und feste Kategorie oder Identität zu verstehen, sondern als hingebungsvolle Zeit, Aufmerksamkeit, Pflege, Schutz und einen unterbrochenen Geisteszustand.

Film Still, Love and Labor. Intimacy and Isolation. Care and Survival (2020), Maternal Fantasies

Link zum  Film

Love and Labour. Intimacy and Isolation. Care and Survival. Eine Performance zwischen Müttern und Kindern in einem Zustand der Abgeschlossenheit von und mit Maternal Fantasies 2020. Im Auftrag der M.1 Arthur Boskamp-Stiftung und des Hauses der Kulturen der Welt für die 4. Ausgabe der New Alphabet School on Caring (ko-kuratiert von Sascia Bailer, Gilly Karjevsky und Rosario Talevi).
www.hkw.de/en/programm/projekte/veranstaltung/p_168755.php

3 Fragen an Maternal Fantasies

Was war eure Motivation, eure Kinder in eure künstlerische Arbeit miteinzubeziehen und welche Möglichkeiten bietet dies für eine feministische und kritische künstlerische Praxis?

Als Antwort auf das feministische Mantra der 70er Jahre Frauenbewegung „Das Persönliche ist politisch“ (the personal is political) fügen wir hinzu, aber „Mutterschaft ist keine persönliche Angelegenheit“. Wir verbinden mit dem Begriff Mutterschaft eine soziale Konzeption und historische Institution. Deshalb passt der engl. Begriff maternal, der sich auch in unserem Namen wieder findet für uns besser. Mutterschaft (the maternal) verstehen wir als gelebte Erfahrung und als eine soziale Position, von der aus wir sprechen, und gleichzeitig als eine politische, wissenschaftliche und künstlerische Praxis von der aus wir handeln. Diese zweite Lesart schliesst Betreuungspersonen, die männlich, transgender, bi- und nicht-binär sind mit ein und nicht aus. “The maternal” umfasst die gesamte Bandbreite menschlicher Identitäten und erweitert sich mit unserer Vorstellungskraft und unserem Selbstempfinden.

Für uns ist die Einbeziehung unserer Kinder in unsere Kunstpraxis gleichzeitig ein feministisches Statement, eine pragmatische Entscheidung und ein soziales Prinzip, das Fürsorge mit einschliesst. Nach unserem Verständnis fragmentiert die westliche neoliberale, kapitalistische Gesellschaft das Individuum in Rollen und Identitäten je nach den auszuübenden Funktionen. Dabei wird die Identität des/der autonomen Vollzeiterwerbstätigen bedingungslos favorisiert, während die Identität der “Mutter”, mit unbezahlten, gering geschätzten Care-Aufgaben und Pflichten überfrachtet wird. Statistisch gesehen sind es in erster Linie die Mütter, die die unbezahlte Sorgearbeit leisten und später in Altersarmut enden.

Dazu kommt, dass Kinder in Deutschland nicht nur in der Kunstwelt, sondern in jedem Berufsfeld bzw. dem öffentlichen Leben nicht willkommen sind. Sie sind von jeglicher politischen Partizipation ausgeschlossen und werden in politischen Entscheidungsprozessen nicht genügend berücksichtigt. Noch deutlicher wurde dies während der aktuellen COVID-19-Pandemie, in der Kinder als „Virusschleudern“ diffamiert und von heute auf morgen in den persönlichen Bereich, den häusslichen Wohnraum abgeschoben wurden. Dafür bekamen die Kinder ohne jegliche Möglichkeit der Mitsprache von den Regierenden viele neue Aufgaben zugeteilt. Diese reichten von der Grundannahme das Homeschooling sei selbständig zu erledigen, bis hin zur allseitige Erwartung die berufstätigen Eltern in ihren Homeoffices möglichst nicht zu stören, damit diese weiterhin in Vollzeit “performen” könnten.

Diesen allgegenwärtigen Druck als berufstätige Mütter ständig doppelt “performen” zu müssen haben wir bereits in unseren ersten Arbeiten thematisiert. Die meisten von uns wurden Mütter in einer frühen Karrierephase, in der sie als Künstlerinnen (noch) nicht etabliert waren. Als junge Mütter war es für uns unmöglich beiden Persönlichkeiten unter einen Hut zu bringen, eine aktive Kunstpraxis und mögliche Karriere aufrechtzuerhalten und gleichzeitig Mütter zu sein. Aus praktischen Gründen (weil wir uns einfach keine Babysitter*innen leisten konnten oder die Kinderbetreuung am Wochenende nicht auch noch auslagern wollten), haben wir die Kinder von Anfang an in unsere gemeinsamen Unternehmungen mit einbezogen. Dadurch haben unsere Kinder öfter zusammen gespielt und miteinander angefreundet, während wir unsere künstlerische Praxis, Forschung und Erfahrungen diskutierten und teilten.
Später wurden die Kinder aktive Teilnehmer*innen oder sogar Kollaborateur*innen und Autor*innen, die zu unserem künstlerischen Arbeitsprozess beitrugen. Durch ihre Anwesenheit erkannten wir, wie wichtig es ist, den “maternellen” Aspekt unserer Identität mit unserer künstlerischen Identität zu verschmelzen. Für jede von uns war dies ein persönlicher Prozess und eine Möglichkeit, durch die  kollektive Auseinandersetzung angestoßen, die bis dahin aufgespaltenen Identitäten mit einander zu versöhnen.

Historisch gesehen hat Mutterschaft keinen Platz in einer Kunstwelt, die immer noch die junge, unschuldig-naive weibliche Muse fetischisiert, während sie das ungebärdete, autonome, männliche Künstlergenie verherrlicht. Als Kollektiv wollen wir diese Vorstellung, die einen bedeutenden Teil unserer “mütterlichen” Identität ausschließt und eliminiert, in Frage stellen. Auf der anderen Seite veranlasst die Beteiligung unserer Kinder uns alltägliches und unbeachtetes anders und neu zu denken. Diese veränderte Herangehensweise führt uns zu neuen Fragen, Methoden und fruchtbaren Herausforderungen in der gemeinsamen Arbeit. Vielfach unterbrechen die Kinder unsere imaginierte, angestrebte künstlerische Perfektion (z.B. ein Bild, das wir inszenieren wollen) oder unseren geplanten Arbeitsprozess mit ihren Fragen, Ideen, Forderungen und Bedürfnissen. Das zwingt uns dazu, oftmals unsere Methodik zu überdenken, die Unterbrechungen als mögliche Chance wahrzunehmen und diese Erfahrung in das sich verändernde Kunstwerk einfliessen zu lassen. Die kollektive Arbeit mit und an der Seite von Kindern ist ein transformativer Prozess, und unsere Praxis mit ihnen wächst, verändert sich, sie und uns, so wie das durch die Zeit eben passiert.

Wie hat Corona eure Zusammenarbeit verändert, im praktischen Sinne, aber auch im Hinblick auf die Erfahrung, dass Themen wie „Care-Arbeit“ und „Mutterschaft“ durch die Pandemie stärker in den gesellschaftlichen Fokus gerückt sind?

Wir mussten unsere Arbeitsweise sehr konkret umstellen, da wir uns seit März 2020 mit unseren Kindern nicht mehr physisch als Gruppe an einem Ort oder in unserem Studio treffen können. Die Corona-Phase hat uns dennoch näher zueinander gebracht.  Wir haben feste wöchentlicher Online-Treffen eingeführt, in denen wir Ideen entwickeln, kollektive automatische Schreibübungen abhalten, kreative Experimente durchführen oder die aktuellen Projekte voranbringen. In einer Lockdown-Situation ist das regelmäßige wöchentliche Treffen bereits eine Art selbstinitiierte Struktur der Selbstfürsorge. In diesem Sinne wurden unsere persönlichen Wohnungen zu Kulissen für unsere Online-Treffen und zu Bühnen, auf denen wir auftreten (wie in unserer Online-Performance ‚Love and Labor. Intimität und Isolation. Care and Survival‘). Durch den Lockdown bringen wir unsere intimen, persönlichen Lebensräume mit in die gemeinsame Arbeit ein, nicht nur uns selbst und unsere Geschichten, wie wir es früher getan haben. Außerdem sind wir gegenseitig zu einer Art sozialem Unterstützungssystem geworden und teilen praktische Tips, um mit den fortdauernden Corona-Lockdown-Maßnahmen und der Doppel- und Dreifach-Belastund durch zusätzliche Kinderbetreuung und Homeschooling fertig zu werden.

Auf welche Weise und mit welchem Schwerpunkt möchtet ihr in einer hoffentlich baldigen Post-COVID-Zeit weiterarbeiten?

Wir beabsichtigen, das Konzept des “maternellen” weiter in Richtung „fürsorgliche Koexistenzen“ zu erweitern und wollen die Erfahrung der Mutterschaft und Fürsorge als Teil der Natur und nicht getrennt von ihr erforschen. Wir schlagen eine „Ästhetik der Fürsorge“ als Grundlage für das Zusammenleben zwischen den Spezies vor, um unsere gemeinsame „Welt“ zu erhalten, fortzuführen und möglicherweise zu reparieren. Wir wollen diese “Aesthetik der Fürsorge” als eine Art gedankliches Werkzeug verwenden, um uns den „mehr als menschlichen Welten“ zuzuwenden und einen neuen Zugang über Leben nachzudenken ermöglichen. Wir werden die „Ästhetik der Fürsorge“ im Rahmen von neuen Residenzen und kollektiven Projekten in Zusammenarbeit mit unseren Kindern erforschen. Im kommenden Sommer hoffen wir, einen Raum für analoge Mensch-Pflanze-Fluid-Umwelt-Interaktionen im Rahmen einer Künstler*Innen Residenz bei der Floating University zu entwickeln. Die öffentliche Jury-Sitzung wird am 18. Februar 2021 um 18 Uhr stattfinden. Wir würden uns freuen, wenn ihr an der Online-Präsentation teilnehmt. Drückt uns die Daumen!
https://www.facebook.com/events/197125892098760

 

Maternal Fantasies ist eine interdisziplinäre Gruppe internationaler Künstlerinnen und Kulturproduzentinnen aus Berlin. Sie prägen den Diskurs über Mutterschaft durch kollektive künstlerische Prozesse und machen zeitgenössische intersektionale, öko-feministische Positionen sichtbar, die sich mit Mutterschaft(en) in der Kunst beschäftigen. Vom Schreiben autobiografischer Antworten auf klassische feministische Texte bis hin zur Entwicklung von Performances mit Kinderspielen – ihre Kunstpraxis setzt auf integrative, gemeinschaftsorientierte Experimente als Alternativen zu traditionellen Strukturen der Kunstproduktion. Durch die Verbindung von Theorie und Praxis verwandeln sie die Forschung über Mutterschaft(en), Pflegearbeit und Repräsentation in den Künsten in einen Rahmen für immersive Formen der Kritik. Wir integrieren rotierende Autorenschaft und Werkzeuge der kollektiven Fürsorge in unsere Produktion und öffnen den künstlerischen Prozess für die Teilnahme (unserer) Kinder.
Maternal Fantasies sind Aino El Solh, Hanne Klaas, Isabell Spengler, Lena Chen, Magdalena Kallenberger, Maicyra Leao, Mikala Hyldig Dal.
Maternal Fantasies sind Förderpreisträgerinnen 2019/20 der Arthur Boskamp-Stiftung.
www.maternalfantasies.com

 

 

 

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