Elianna Renner: MIND THE GAP

Elianna Renner

Ausstellung

© Elianna Renner

Ausstellung

22.11.2014- 30.1.2015 //
Mi.-Sa. 16:00-19:00

Eröffnung

21.11.2014 // 19:00

Tracking the Traffic

Präsentation eines interdisziplinären Projekts von Elianna Renner
30.1.2015 // 19:00

Bilder

Fotos Eröffnung & Ausstellung

 

Fotos: alpha nova & galerie futura

Presse

Medienpartnerin

Fotografie – Video – Audio – Installation

Käfer fressen sich durch alte Kolumnen jiddischer Zeitungen.
Oma bekommt Grüße aus der ‚Heimat‘ und vergisst den Text ihres Lieblingsliedes.
Ein Warteraum eröffnet eine fiktiv-reale Erzählung.
Videoschnipsel erzählen Realitäten, mit denen man nicht gerechnet hat.
Ein Aktenvernichter frisst Geschichte(n) auf. Gras drüber.

Erinnerungslöcher. Gedächtnislücken. Leerstellen. Gestopft, verschoben auf Nebenschauplätze. Parallel geschaltet, in Verbindung gebracht, kontextualisiert.

Die Ausstellung MIND THE GAP der Schweizer Künstlerin Elianna Renner zeigt neue, noch nicht öffentlich präsentierte Arbeiten sowie ausgewählte Werke aus den letzten Jahren. In einer performativen Präsentation stellt Elianna Renner zudem ihr jüngstes interdisziplinäres Projekt „Tracking the Traffic“ vor. Thema sind die biographischen Spuren von jüdischen Frauen, die Ende des 19. Jahrhunderts von Menschenhändlerbanden als Prostituierte bzw. Sexsklavinnen in die ganze Welt verschleppt wurden.
Ein Schwerpunkt von Renners künstlerischem Schaffen ist das (auto-)biografische Arbeiten. Im Mittelpunkt stehen dabei immer wieder Geschichten von Frauen, oft solche, die in den offiziellen Geschichtsschreibungen gar nicht oder nur am Rande auftauchen. Einen besonderen Aspekt bildet die Auseinandersetzung Renners mit der eigenen Familiengeschichte. Als während der NS-Zeit verfolgte Juden und Jüdinnen, überlebten viele Familienmitglieder den Holocaust nicht. Einige wenige, u. a. Renners Großmutter, konnten sich mit Hilfe des Roten Kreuzes in die Schweiz retten. Der Umgang mit Erinnerung, Gedenken und dem Erzählen darüber zieht sich als ein roter Faden durch die Arbeiten der Künstlerin.

In der audiovisuellen Installation „Ein Eintausendsechshundertfünfundachtzigstel“ (2010) nimmt sie das Wissen über die Deportation ihrer Großmutter von Budapest ins KZ Bergen-Belsen und ihre Rettung in die Schweiz als Ausgangspunkt, um die Geschichte, die sie nur sehr fragmentarisch aus Erzählungen kennt, ihrerseits weiterzuerzählen. Die Künstlerin überbringt ihrer Großmutter Gespräche, die sie mit ehemaligen Nachbar*innen und Bewohner*innen des Budapester Stadtteils geführt hat, in dem die Großmutter einst lebte.

In einer für die Ausstellung neu entstehenden Arbeit, die sich auf „Ein Eintausendsechshundertfünfundachtzigstel“ bezieht, verhandelt die Künstlerin die Leerstelle, die der kürzliche Tod der Großmutter hinterlassen hat. Auch hier geht es um den Umgang mit Erinnerung und dem Versuch, eine künstlerische Erzählform für die Lücken, Leerstellen und Brüche einer Biographie zu finden.
(„Ein Eintausendsechshundertfünfundachtzigstel: Leerstellen“ (2014))

In der Audioinstallation „Wartezeit“ (2009) geht es ebenfalls um das fragmentierte, nicht-lineare Erzählen und Wiedergeben von Lebens- und Familiengeschichten. Fiktive Elemente werden mit autobiographischen verknüpft, womit die Künstlerin auf das Subjektive jeder Biographie(re-)konstruktion verweist.

„Astrolabium“ (2012) empfängt den*die Besucher*in mit leuchtenden Kästen, die an Modelle von Galaxien erinnern und von einer Audiospur begleitet werden. Beim näheren Hinsehen lassen sich in den Kästen die Überreste eines Archivs mit jiddischen Zeitungskolumnen ausmachen, die eine Unzahl von Fressspuren aufweisen, welche von Holzwürmern über Jahre hinweg in das Archiv eingefräst wurden. Die Installation fokussiert die Löcher, die auf die Zerstörung in den Archiven der Geschichte verweisen. In Archiven werden Daten und Fakten gespeichert. Vielfach fehlen jedoch Erzählungen, Erinnerungen und Lebensgeschichten. Diese Löcher in den Archiven gilt es zu stopfen.

Die aktuelle Arbeit „Realities“ (2012-2014), ein work-in-progress-Projekt, ist eine Sammlung von Video-Portraits mit Frauen unterschiedlicher Generationen, denen die Künstlerin auf ihren Reisen in Litauen, Südafrika, Deutschland und den USA begegnet ist. Sie geben kurze bruchstückhafte Einblicke in den Alltag und die Lebenswelten der Protagonistinnen. In „Realities“ widmet sich die Künstlerin der Frage der Authentizität beim Erzählen der eigenen Geschichte durch die interviewten Personen. Diese wird unmittelbar gebrochen durch die ästhetische und inhaltliche Bearbeitung des Filmmaterials und legt erneut die Konstruktion der dokumentarischen Erzählung offen.
Aus dem Schlitz eines Aktenvernichters wächst Gras, dazu hört man leise, beruhigende Wellengeräusche. „o.T.“ (2014)  verweist darauf, wie manche Geschichte(n) und Ereignisse aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht werden – gewollt oder auch unbewusst.

Als bildende Künstlerin schafft Renner einen ästhetisch-visuellen Zugang zur Auseinandersetzung mit oral history und Geschichte. Dabei geht es ihr darum, Geschichte(n) als Konstruktionen wahrnehmbar werden zu lassen, die sich je nach ErzählerIn neu darstellen. Die künstlerische Perspektive und Umsetzung erlaubt ihr, anders als HistorikerInnen, eine assoziative und spielerische Annäherung an das, was sie selber als ‚Erinnerungslöcher‘ bezeichnet. WissenschaftlerInnen sehen sich permanent mit der Frage konfrontiert, wie sie mit dem nie zu erfüllenden Wahrheitsanspruch von Geschichte umgehen können. Diesen Wahrheitsanspruch sucht die Künstlerin als illusorisch zu entlarven. In ihren Arbeiten imaginiert sie, setzt neu zusammen, verknüpft Fiktives mit ‚Realem‘ und nutzt dazu eine Vielzahl künstlerischer Medien wie Film, Fotografie, Audio, Text, Skizzen und Installation.

Mit ihren Werken erinnert sie uns daran, dass nicht nur persönliche Erinnerungsprozesse zwangsläufig lückenhaft ablaufen, sondern dass auch das kulturelle Gedächtnis und die offizielle Geschichtsschreibung (un)vermeidliche Lücken produzieren, welche auf die Konstruktion von Geschichte(n) im Allgemeinen verweisen. Individuelles und kollektives Erinnern gehen ineinander über, und durch die Leerstellen der Geschichte(n) scheinen die Lichter des Vergessenen. Durch diese Löcher heißt es zu blicken: MIND THE GAP.

www.eliannarenner.com
www.trackingthetraffic.org

 

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